Ein Bremer Unternehmen integriert sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in ambulante Pflegekonzepte und Weiterbildung.

Da sein Mann Verwandtschaft in der Region hat, verschlug es Krankenpfleger Sven Müller 2021 nach Achim und kurze Zeit später nach Thedinghausen, wo die beiden ein Eigenheim erwarben. Arbeit fand er zunächst bei der Aller-Weser-Klinik in Verden, bevor er ins Krankenhaus in Bremen wechselte, wo er bis heute tätig ist. Auf Instagram entdeckte Sven schließlich einen neu gegründeten Pflegedienst, der ihn sofort faszinierte: Vielfältig aus Bremen, der erste ambulante Pflegedienst in Deutschland mit einem Fokus auf Sexualität und geschlechtliche Vielfalt. Schnell wurde er sich mit den Gründerinnen Judith und Hannah Burgmeier einig, und heute arbeitet Sven neben seiner Haupttätigkeit im Krankenhaus als Minijobber für Vielfältig.


Judith und Hannah Burgmeier haben Anfang 2024 in Bremen den Pflegedienst Vielfältig gegründet. Foto: uc


Über Sexualität wird inder Pflege nicht gesprochen
Judith und Hannah gründeten Vielfältig Anfang 2024. Kennengelernt hatten sie sich vier Jahre zuvor durch ihre gemeinsame Tätigkeit für die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz in Mainz. Judith hat Altenpflegerin gelernt und Pflege- und Gesundheitswissenschaften sowie Pflege- und Gesundheits­manage­ment studiert. Hannah, gelernte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, hat Gesundheit- und Pflegepädagogik studiert. Für Hannahs anschließendes Studium der Sexualwissenschaft zog es die beiden vor drei Jahren in den Norden, wo sie sich in Bremen niederließen.
Beide hatten die Erfahrung gemacht, dass Sexualität in der Pflege ein stark tabuisiertes Thema ist, was Hannah maßgeblich bei der Wahl ihres Studienfaches beeinflusste. Doch nun musste sie erkennen, dass das Thema Pflege in diesem Zusammenhang kaum behandelt wurde.
Nachdem sie ihren Masterabschluss erworben hatte, beschlossen die beiden, ihre Kom­petenzen zu bündeln und die Firma Vielfältig zu gründen. Neben der praktischen Umsetzung als Pflegedienst geben sie ihre Inhalte auch in Seminaren, Workshops und Vorträgen für das Gesundheitswesen sowie bei Bedarf auch als individuelles Beratungsangebot weiter.

Seminare in Verden und Rotenburg
Mit ihrem Seminarangebot werden sie deutschlandweit gebucht, gern aber auch aus dem Bremer Umland angefragt. So wurden sie erst vor kurzem von ambulanten Hospizvereinen nach Verden und Rotenburg einge­laden. Dabei ging es unter anderem um die Themen ‚Sexualität im Rahmen einer guten Sterbebegleitung besprechbar zu machen‘ und ‚eigene Grenzen in Bezug auf Sexualität zu erkennen und zu wahren‘.
Innerhalb des aktuell siebenköpfigen Teams gibt es ebenfalls einen Austausch über die Thematik, erzählt Hannah. Ab April 2025 sind darüber hinaus spezielle Schulungen geplant, da sich der Betrieb für das Qualitätssiegel ‚Lebensort Viel­falt‘ bewirbt, mit dem Alten- und Pflegeeinrichtungen ausgezeichnet werden, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt berück­sich­tigen. Werden neue Klient*innen aufgenommen, werden be­eits im Vorfeld die Themen Sexualität und Diversität berück­sichtigt. Am Anfang wird bei allen Pflegediensten eine pflegerisch-medizinische Anamnese durch­ge­führt, bei der u.a. Informationen zum Gesundheitszustand, der Krankheitsgeschichte und dem Pflegebedarf erfasst werden. Anders als üblich werden bei Vielfältig dabei aber auch Aspekte der sexuellen Orientierung und Lebensweise erfragt, um sensibel damit umgehen zu können, falls dies für die Pflege relevant sein sollte.
Viele Menschen der Generation, die heute pflegebedürftig sind, haben Diskriminierung und Traumata erfahren, weil ihre Sexualität und geschlechtliche Identi­tät nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Noch bis 1994 waren homosexuelle Hand­­lungen strafbar. Die Betroffenen haben gelernt, ihre sexuelle Identität zu verstecken, um sich zu schützen.

Sensibeler Umgang mit der jeweilige Situation
Ist die Person dann auf ambulante Pflege angewiesen, bedeutet das, dass ein fremder Mensch in den eigenen Wohnraum – den intimsten Schutzbereich eines Menschen – ein­dringt, erläutern Hannah und Judith. Mit ihrem Angebot wollen sie gewährleisten, dass dieser Schutz­raum gewahrt wird und sensibel mit der Situation der jeweiligen Person umgegangen wird.

Offen für alle, die in Bremen Pflege benötigen
Ein queerer Hintergrund ist jedoch keine Voraussetzung, um die Leistungen von Vielfältig in Anspruch zu nehmen. Gerade jetzt in der Gründungsphase sei dies sogar eher die Ausnahme, erzählt Judith. Gleichzeitig ist Vielfältig ein attraktiver Arbeitgeber für Menschen wie z.B. Sven, die über einen entsprechenden Background verfügen. Da das junge Unternehmen weiter wachsen möchte, werden weiterhin Pflegekräfte gesucht, die sich mit der Philosophie und den Zielen des Unternehmens identifizieren können.
Sven freut sich, Teil eines Teams zu sein, das eine achtsamere Pflege entwickelt und umsetzt – auch wenn er der Meinung ist, dass ein offener Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Pflege im Jahr 2024 selbst­ver­ständ­lich sein sollte. (uc)

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