Im Landkreis Verden leben rund 28.000 Kinder und Jugendliche mit ihren Familien. Zu den Unterstützungsleistungen, die der Landkreis Verden für Kinder und ihre Eltern anbietet, gehört u.a. die „Erziehungsberatung“ bzw. „Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern“ wie sie inzwischen heißt. Sie ist ansässig auf dem Gelände der Landkreisverwaltung in der Artilleriestr. 8 und hat eine Nebenstelle in der Obernstr. 11 in Achim. Leiter Jörg Haase beantwortete uns einige Fragen zu seiner Arbeit.
Was sind die Aufgaben der Erziehungsberatung?
Die klassische Aufgabe, weshalb vor gut 100 Jahren einmal die Idee einer Erziehungsberatung entstanden ist, liegt in der Beratung von Eltern zu Fragen der Entwicklung ihrer Kinder. Was mache ich, wenn mein zweijähriges Kind die Kraft seines Willens entdeckt? Wie gehe ich mit Ängsten und Schlafproblemen meiner Kinder um, was mache ich, wenn die Geschwister sich ständig streiten? Alle Themen, die das Aufwachsen mit Kindern mit sich bringen, alle Sorgen wegen veränderter Verhaltensweisen können besprochen werden. Ein Großteil unserer Arbeit macht inzwischen auch die Beratung nach einer Trennung der Eltern aus. Wie können wir, obwohl wir kein Paar mehr sind, trotzdem gut für die Kinder zusammenarbeiten und die Eltern-Kind-Beziehungen erhalten? Wie können wir unsere Kinder bei der Bewältigung unterstützen?
Aber auch Kinder und Jugendliche können sich an uns wenden, um sich Unterstützung bei Konflikten mit ihren Eltern zu holen oder wenn man sich aus anderen Gründen nicht gut fühlt. Daher haben wir uns 2020 auch umbenannt in „Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern“, denn Kinder und Jugendliche wollen von uns ja nicht erzogen werden.
Was sind Themen, mit denen sie häufig konfrontiert sind?
Häufige Themen sind Konflikte, die nach einer Trennung entstehen. Wer darf wann das Kind sehen, wie gehen wir mit unterschiedlichen Erziehungsstilen um, wie kann wieder ein konstruktiver Dialog entstehen?
Daneben gibt es alle Themen, die damit zu tun haben, dass Kinder und ihre Eltern unterschiedliche Vorstellungen haben, was möglich und sinnvoll ist, angefangen beim genannten zweijährigen Kind bis hin zu Ablösungs- und Selbstentwicklungskonflikten in der Pubertät. Auch Sorgen, wenn die Entwicklung der Kinder mal einen Umweg nimmt, weil es z. B. Schulschwierigkeiten oder schwierige Freunde hat, sind Themen.
Wie hat sich Corona auf Ihre Arbeit und die Themen, mit denen Sie zu tun haben, ausgewirkt?
Auf die Arbeit wirkt sich das je nach Pandemiesituation aus. Abhängig von der Inzidenz arbeiten wir mit verschiedenen Stufen unseres Hygienekonzepts. Auch telefonische Beratungen oder Gespräche an der frischen Luft („walk and talk“) sind möglich. Da sind wir kreativ geworden.
Thematisch spielt Corona insofern eine Rolle, als dass ein zusätzlicher Belastungsfaktor da ist, der Familien an ihre Grenzen gebracht hat. Die Organisation von Homeschooling war schon eine echte Heraus- und manchmal auch eine Überforderung. Dann gibt es eine ständige Auseinandersetzung mit der Angst: selbst zu erkranken, andere anzustecken, wirtschaftliche Sorgen. Für manche Kinder war das Distanzlernen hilfreich und die Rückkehr schwierig, anderen ging es genau umgekehrt. Viel Zeit miteinander zu verbringen, hat den Zusammenhalt gefördert, aber auch Konflikte hervorgebracht.
Wie reagieren Sie, wenn Sie auf gewaltvolle Erziehungsmethoden stoßen?
Darauf eine kurze, griffige Antwort zu finden, fällt mir schwer. Das würde dem Thema auch nicht gerecht werden. Zunächst einmal möchte ich erwähnen, dass es verschiedene Formen von Gewalt gibt: körperliche, aber auch verbale oder psychische Gewalt. Alle drei beschädigen die Person, der Gewalt angetan wird, nicht nur die körperliche. Selbst die Beobachtung von Gewalt hat Folgen. Daher lautet das Ziel, das gewaltsame Handeln durch ein anderes zu ersetzen. Gewalt hat ja Gründe. In der Beratung versuchen wir, die Auslöser von gewaltsamen Verhalten herauszufinden und andere Mittel zu entwickeln oder weitere Hilfs- und Beratungsangebote aufzuzeigen. In Bezug auf die gewalttätig gewordene Person braucht es eine klare Haltung, dass Gewalt nicht akzeptabel ist, aber genügend Feinfühligkeit, damit eine Motivation zu einer Verhaltensänderung entstehen kann. Wenn das nicht oder nicht schnell genug gelingt, gilt es, die Opfer von Gewalt vor weiteren Übergriffen zu schützen.
Wo verläuft die Grenze zwischen Kindeswohlgefährdung und der Erziehungsautonomie der Eltern?
Die Grenze verläuft da, wo das Kind durch das Verhalten der Eltern erheblich und andauernd körperlich oder psychisch beschädigt wird. Nicht alles, was man pädagogisch durchaus in Frage stellen kann, ist auch eine Kindeswohlgefährdung. Ob das so ist, muss im Einzelfall genau geprüft werden.
Wie sollten sich z. B. Nachbar*innen verhalten, die das Gefühl haben, dass die Erziehungsmethoden dem Kind schaden?
Das kommt auf das Verhältnis zwischen den Personen an. Wenn ich ein gutes Verhältnis zu der Person habe, sollte ich das Verhalten ansprechen. Vielleicht dazu motivieren, sich Hilfe zu suchen. Wenn das nicht möglich ist, kann man sich an den Allgemeinen Sozialdienst wenden, sich beraten lassen, ob es sich hier um ein Verhalten handelt, das im Rahmen von Erziehungsvielfalt und -toleranz von der Gesellschaft hingenommen werden muss oder tatsächlich bedenklich ist. Der ASD kann dann ggf. Kontakt mit der Familie aufnehmen. Es besteht ja noch immer das Vorurteil, dass dann gleich die Kinder herausgenommen werden. Das ist aber nicht so. Erst einmal geht es darum, mit der Familie ins Gespräch zu kommen und nach Gründen und möglichen Hilfen zu suchen.
Was sind Anzeichen dafür, dass die Erziehungsmethoden dem Kind schaden und dass man eingreifen sollte?
Das hängt sehr von dem Alter der Kinder ab. Bei einem Säugling sieht das anders aus als bei Jugendlichen. Generell sind Verhaltensänderungen ein Anzeichen, dass das Kind sich belastet fühlt. Auch besondere Verhaltensweisen wie übermäßiger Rückzug, große Angst, Wut oder Traurigkeit, starke Reizbarkeit oder die Neigung, sich oder andere zu verletzen, sollten Anlass zur Sorge bereiten. Wenn man durch das Verhalten das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt, hilft es, sofern die Möglichkeit dazu besteht, ins Gespräch zu kommen. Je jünger und hilfloser das Kind ist, desto eher sollte man reagieren.
War es eine bewusste Entscheidung, dass bei Ihnen Menschen mit unterschiedlichen Fachrichtungen arbeiten?
Das Gesetz sieht eine interdisziplinäre Zusammenstellung des Beratungsteams vor. Das macht auch Sinn, denn Familien sind individuell und auch wir als Fachleute profitieren untereinander von den verschiedenen Sichtweisen. Deshalb kommen die Beratungskräfte aus der Sozialpädagogik oder Psychologie und haben verschiedene zusätzliche Aus- und Weiterbildungen. Inhaltlich ergänzen wir uns daher gut und können zu einem breiten Spektrum an Themen beraten.
Sie selbst sind „Systemischer Familientherapeut“. Was sind die Besonderheiten dieser Therapieform?
Die systemische Familientherapie oder Beratung geht erst einmal davon aus, dass es verschiedene „Systeme“ gibt. Wer oder was zu einem System gehört, hängt von der Betrachtungsweise der Beobachtenden oder den Mitgliedern des Systems ab. Auf die Familie bezogen kann man sagen, dass es mehr sein kann als Mutter-Vater-Kind. Die drei können sich nicht einmal einig sein, dass sie eine „Familie“ sind. Es kann verschiedene Kleinsysteme geben, die aus unterschiedlichen Familienmitgliedern bestehen. Äußere Einflüsse wirken auf eine Familie ein. Dies, wie auch die individuellen Erfahrungen der Familienmitglieder bestimmen, was diese Familie ausmacht. Systemisches Arbeiten akzeptiert, dass es verschiedene Sichtweisen gibt und kein „richtig“ oder „falsch“. Zu einem System gehört auch, dass Verhalten sich gegenseitig beeinflusst. Wie bei einem Mobile: Stoße ich eine Sache an, bewegen die anderen sich mit. Verhalten wird zudem als Versuch einer Lösung angesehen. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Wenn ein Kind beginnt, den Schulbesuch zu vermeiden, kann es damit zu tun haben, dass es in der Schule gemobbt wird oder überfordert ist. Es kann aber auch sein, dass es versucht, auf einen Elternteil aufzupassen, weil es sich wegen häuslicher Gewalt oder schwerer Krankheit Sorgen um ihn macht. Geschwisterstreitigkeiten sind bis zu einem gewissen Grad normal, können aber auch der Versuch sein zu verhindern, dass die Eltern sich weiter streiten. Oftmals ändert sich das Verhalten einer Person, wenn eine andere, die gar nicht Anlass der Beratung war, ihr Verhalten ändert.
Als systemisch Beratende versuchen wir, verschiedene Sichtweisen zusammenzubringen, als „wahr“ anzuerkennen und mit den Familienmitgliedern herauszuarbeiten, was sie als hilfreich für ihre Entwicklung wahrnehmen. (uc)